Kindesentzug über Grenzen hinweg
Wenn ein Kind nicht nach Hause kommt, läuten die Alarmglocken. Im «Worst Case» sind alle gefordert – auch fedpol.
Anfang Juli 2023: Der dreijährige Julian* verbrachte das Wochenende bei seinem Vater Hasan*, der sich das Sorgerecht mit der Mutter teilt. Zur vereinbarten Zeit wartet die Mutter vergeblich auf ihren Sohn. Sie meldet ihr Kind bei der Kantonspolizei Freiburg als vermisst. Doch Hasan ist mit Julian bereits über alle Berge. Er möchte vermutlich zurück in sein Heimatland, ein ehemaliges Kriegsgebiet im Mittleren Osten.
Hasan verstösst gegen Artikel 220 des Strafgesetzbuchs: Kindesentzug ist kein Bagatelldelikt. Die Kantonspolizei Freiburg und fedpol spannen zusammen: Das Kind wird im RIPOL, dem Polizeifahndungssystem der Schweiz, sowie im Schengener Informationssystem (SIS) und in der INTERPOL-Datenbank ausgeschrieben.
SIS-Ausschreibung
Grundsätzlich können seit Anfang März 2023 besonders schutzbedürftige Personen im SIS präventiv ausgeschrieben werden. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder das Gericht kann eine vorsorgliche Ausschreibung verfügen, wenn beispielsweise die Gefahr besteht, dass ein Elternteil das eigene Kind gegen den Willen des anderen Elternteils ins Ausland bringen will. Eine Massnahme, die auch in anderen Zusammenhängen angeordnet werden kann, beispielsweise bei drohender Zwangsheirat oder weiblicher Genitalverstümmelung. Im Jahr 2023 schrieben die Schweizer Behörden 535 Personen aus.
Leider verhindern die Ausschreibungen in den Fahndungssystemen nicht immer die Ausreise aus der Schweiz. Hasan reist mit seinem Sohn per Auto über den Balkan in Richtung Griechenland. In vielen Fällen von Kindesentzug flüchten die entziehenden Elternteile auf dem Landweg in Richtung Ausland. Sie profitieren dabei von den fehlenden Binnengrenzen im Schengen-Raum. In Griechenland besorgt Hasan für sich und Julian gefälschte Pässe und schafft es, in die Türkei einzureisen. Von dort aus meldet er sich bei Julians Mutter; immer häufiger.
«Ob ein Kind erfolgreich zurückgeführt werden kann, hängt oftmals auch von der Zusammenarbeit der Partnerbehörden ab. Dazu gehören in der Schweiz die kantonalen Behörden, das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit dem konsularischen Schutz und seinen Konsulaten vor Ort, fedpol mit seinen internationalen polizeilichen Kontakten und das Bundesamt für Justiz.»
Pia, Polizeiliche Fachspezialistin
Der Polizeiattaché von fedpol in der Türkei nimmt im Auftrag der Kantonspolizei Freiburg mit den Behörden vor Ort Kontakt auf. Sie prüfen, ob sich Hasan und Julian tatsächlich in der Türkei aufhalten. Doch sie scheinen untergetaucht zu sein – das funktioniert dank den gefälschten Pässen. Die Kantonspolizei Freiburg schafft es, telefonisch mit Hasan Kontakt aufzunehmen. Sie verhandelt mit ihm die Bedingungen, um Julian sicher in die Schweiz und zurück zu seiner Mutter zu bringen.
Die Verhandlungen ziehen sich über Wochen hin; der Vater stellt Forderungen. Ende Dezember scheint eine Einigung gefunden. Wegen den gefälschten Dokumenten hat Hasan Angst, aus der Türkei auszureisen. Mittlerweile ist sein Aufenthaltsort bekannt, und der Polizeiattaché beantragt – im Auftrag der Kantonspolizei Freiburg – bei den örtlichen Behörden, dass Hasan in Gewahrsam genommen wird. Am 29. Dezember ist es endlich so weit: Die türkischen Behörden entziehen Hasan den dreijährigen Julian. Anfang 2024 kann die Mutter ihr Kind in die Arme schliessen.
Netz der Polizeiattaché(e)s
fedpol betreibt gemeinsam mit dem Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) ein Netz von Polizeiattaché(e)s in Europa, im Maghreb und im Mittleren Osten, in Südamerika sowie bei Europol und INTERPOL. Die Polizeiattaché(e)s sind Ansprechpersonen vor Ort: Sie bearbeiten dringende und wichtige Fälle mit Bezug zur Schweiz, beschleunigen laufende Ermittlungen und den Informationsaustausch, ermöglichen und vermitteln Kontakte. Es handelt sich vor allem um Fälle rund um Leib und Leben, Betäubungsmittelhandel, Terrorismus, Pädokriminalität und Entführungen.
* Name geändert