Wer sucht, der findet
«Was man sucht – es lässt sich finden, was man unbeachtet lässt – entflieht!» So sagte es der griechische Dichter Sophokles. 2500 Jahre später ist dies das Mantra im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Wie ein Lagebild entsteht.
Schweiz, 1970er-Jahre. Man munkelt, die Mafia sei aktiv in der Schweiz – genau weiss es niemand. Das Bewusstsein und sichtbare Beweise fehlen. Es wird noch über zehn Jahre dauern, bis sich die Hinweise zu ersten Erkenntnissen verdichten. Wie tief sind diese Strukturen in die Schweizer Gesellschaft eingedrungen? Die Frage ist der Beginn eines fortlaufenden Informationszyklus, der den Grundstein für das heutige Lagebild legt.
Der Informationszyklus
Der Informationszyklus ist ein wichtiger Prozess in der Kriminalanalyse. Er beschreibt, wie Analytikerinnen und Analytiker Informationen sammeln, auswerten, zu Produkten verarbeiten und weiterleiten. Der Zyklus ist ein kontinuierlicher Prozess, an dem verschiedene Partner im Verbund arbeiten. Er beginnt mit der Erfassung von Informationen aus verschiedenen Quellen, beispielsweise dem polizeilichen Informationsaustausch, Zeugenaussagen oder Gerichtsurteilen. Analytikerinnen und Analytiker suchen in den Informationen Muster und Zusammenhänge. Ihre Schlussfolgerungen und Erkenntnisse geben sie an Ermittlerinnen oder Entscheidungsträger weiter.
In den 1990ern kommen auf die Fragen allmählich Antworten. Die Ära der internationalen Kooperationen beginnt. Die Ermittlerinnen und Analytiker graben tiefer, das Netzwerk der Informationsquellen und Partner wächst. Berichte von Migrations- und Polizeibehörden, Gerichtsurteile aus Italien, Erkenntnisse von Europol und INTERPOL – jeder Bericht, jede Zeugenaussage und jedes Gerichtsurteil aus Italien schärft das Bild: die Mafias sind nicht nur ein Problem Italiens, sie sind auch hier in der Schweiz, verwoben in das soziale und wirtschaftliche Gewebe der Schweiz. Welche neuen Bedrohungen sind entstanden, und wie kann die Schweiz effektiver gegen sie vorgehen? Jede Information, jede neue Erkenntnis wird in den fortlaufenden Ermittlungszyklus eingespeist, die Schweiz beginnt, das Netzwerk der organisierten Kriminalität zu verstehen. Neue Erkenntnisse lösen neue Fragen und neue Nachrichtenzyklen aus.
Vernetzte Ermittlungen
Informationsaustausch und Kooperation mit Partnern – damit schärfen die Analytikerinnen und Analytiker bei fedpol laufend das Lagebild. Sie spezialisieren sich auf Themen und tauschen sich aus: Erkenntnisse, die sie über die italienische organisierte Kriminalität gewinnen, können den Spezialisten ein weiteres Puzzleteil für ihre Ermittlungen liefern. Entscheidungsträgerinnen können strategische Prioritäten setzen, Ermittlerteams ihre Ermittlungen neu fokussieren.
Das neue Jahrtausend bringt einen Wendepunkt. Neue Technologien, die Globalisierung – auch fedpol nutzt sie für die Analyse. Die Entwicklung erreicht 2021 ihren vorläufigen Höhepunkt, als die niederländische, die belgische und die französische Polizei dem verschlüsselten Kommunikationsdienst Sky ECC auf die Schliche kommen: Was als undurchsichtige Festung verschlüsselter Kommunikation galt, wird plötzlich zur Quelle von Erkenntnissen. Was verraten diese Kommunikationsmuster über die Winkelzüge der kriminellen Netzwerke? Akribisch werten die Analytikerinnen und Analytiker bei fedpol die Chats von Schwerstkriminellen aus: Ein tiefer Einblick in die Abgründe der organisierten Kriminalität in unserem Land.
Technologischer Fortschritt in der Kriminalanalyse
Die Entschlüsselung der Sky-ECC-Kommunikation illustriert den Einfluss von technologischen Fortschritten auf die Kriminalanalyse. Solche Durchbrüche transformieren die Datensammlung und -analyse, was wiederum zu einem tieferen Verständnis der kriminellen Netzwerke führt und es erlaubt, priorisiert da zu ermitteln, wo es der organisierten Kriminalität wehtut.
Sky ECC legt offen, was die Analytikerinnen und Ermittler längst vermutet und erkannt haben: Organisierte Kriminalität in der Schweiz geht weit über die italienischen Mafias hinaus. Die laufenden Analysezyklen, unterstützt durch fortschrittliche Datenanalytik, decken Tendenzen und Muster auf, schaffen ein neues Lagebild für die Schweiz. Die italienischen Mafias: spezialisiert auf Drogenhandel und Geldwäscherei, nutzen die Schweiz als operationelle Basis, strategischen Umschlagplatz und Rückzugsort. Die holländisch-belgische «Mocro Maffia»: Geldautomatensprengungen, Drogenhandel, Geldwäscherei im grossen Stil. Südosteuropäische Netzwerke: dominieren den Kokainhandel. Die russische organisierte Kriminalität: Wirtschaftskriminalität und Geldwäscherei, oft verbunden mit dem politischen und finanziellen Einfluss von Oligarchen. Nigerianische Bruderschaften wie die «Black Axe»: Drogenhandel und Betrug, bekannt für ihre komplexen transnationalen Operationen. Türkische Gruppierungen: Drogenhandel, illegales Glücksspiel und Geldwäscherei.
Sie sind da.
Die «Polizeilage fedpol»
fedpol hat in ihrer polizeilichen Lage acht Schwerpunkthemen:
- Terrorismus und Gewaltextremismus
- Organisierte Kriminalität und darunter die kriminellen Organisationen
- Handel mit Betäubungsmittel
- Menschenhandel / Menschenschmuggel
- Cyberkriminalität und digitale Kriminalität
- Finanz- und Wirtschaftskriminalität
- Sicherheit von Personen und Gebäuden
- Sicherheit der Zivilluftfahrt
Für jeden dieser Schwerpunkte führt fedpol detaillierte Lagen. Die Lagebilder sind essenziell, um strategisch die richtigen Prioritäten festzulegen und die operativen Ressourcen wirksam einzusetzen.
Das Lagebild wird klarer, die Aussicht düsterer. Das ganze Bild? Nein! Denn das, was die Analytikerinnen und Analytiker heute sehen, ist nur ein Teil des grösseren und präziseren Bildes von morgen.
«Wie Sophokles vor 2500 Jahren treffend sagte: ‹Was man sucht – es lässt sich finden, was man unbeachtet lässt – entflieht!› Dieser Leitsatz bleibt der Kern des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität: eine ständige Erinnerung daran, dass Aufmerksamkeit und Akribie der Schlüssel zur Enthüllung der Schattenwelt sind. Welche neuen Erkenntnisse wird die Zukunft bringen, und wie werden wir darauf reagieren?»
Stéphane, Kriminalanalytiker
Das Netzwerk Staatsverweigernder unter der Lupe