Doppelt ausgebeutet

Eine Entführung in Bosnien und Herzegowina – eine Erpressung in der Schweiz. Auf der Migrationsroute zählen Menschenleben wenig, aber sie lassen sich zu Geld machen. Wie enge Zusammenarbeit der Polizei Landesgrenzen, Sprachbarrieren und Zeitdruck überwinden lässt.

Bern, 17. Januar 2024, 5.24 Uhr

Das Pikett-Telefon des Kommissariats Sonderlagen klingelt. Am anderen Ende: die Kantonspolizei Bern. Sie berichtet, dass ein Mann im Kanton Bern erpresst wird, nennen wir ihn Ariyan*. Sein Bruder wurde in Bosnien und Herzegowina entführt. Die Täter rufen Ariyan nun immer wieder an und er hört, wie sein Bruder misshandelt wird.

Die Kantonspolizei Bern nimmt intensive Ermittlungen auf und bittet fedpol um Unterstützung bei diesem internationalen Fall. Ariyans Bruder und zwei weitere Männer sind unterwegs auf der Migrationsroute vom Iran zu unterschiedlichen Zielen in Europa, als ihre Reise in Bosnien und Herzegowina abrupt unterbrochen wird. Schlepper entführen sie und halten sie fest. Die Forderung für die Freilassung: pro Geisel zu Beginn 10’000 Euro, später steigt die Summe. Die Opfer stammen aus dem Iran, die Täter aus Afghanistan. Oft ist es auch umgekehrt. Die Täter sind äusserst gewaltbereit. Treiben die Angehörigen das geforderte Geld nicht auf, töten sie die Geiseln oder verkaufen sie als Sklaven.

Bei den drei Familien im Iran und in der Schweiz herrscht Panik. Rasche und enge Zusammenarbeit der Polizei ist jetzt entscheidend. Ein fedpol-Spezialist fährt umgehend zur Kantonspolizei Bern, die den Einsatz leitet. Im Hintergrund unterstützen ihn seine Kolleginnen und Kollegen vom fedpol-Standort aus. Die Kantonspolizei steht mit Ariyan in Kontakt und begleitet ihn bei den Gesprächen mit den Erpressern. Gleichzeitig baut fedpol über das European Network of Advisory Teams (EuNAT; siehe Box) die Verbindung zur State Investigation and Protection Agency (SIPA) in Bosnien und Herzegowina auf. Das beschleunigt die Ermittlungen vor Ort. Trotzdem: Sie finden die Geiseln nicht. Die Frist, die die Entführer für die Überweisung des Lösegelds gesetzt haben, naht. Alle drei Familien beschliessen zu zahlen.

European Network of Advisory Teams (EuNAT)

EuNAT ist ein europäisches Netzwerk von polizeilichen Berater- und Verhandlungsgruppen. Im Rahmen der rechtlichen Grundlagen der jeweiligen Länder bildet es eine Plattform für den Austausch bewährter Praktiken in ganz Europa. Das Netzwerk ermöglicht zudem eine unmittelbare internationale Zusammenarbeit und rasche Unterstützung im Falle von Entführungen, Geiselnahmen und Erpressung, insbesondere wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen.

Sarajevo, 17. Januar 2024, um 16 Uhr

Rund 12 Stunden nachdem fedpol involviert wurde, werden Ariyans Bruder und seine beiden Reisegefährten freigelassen. Die bosnischen Einsatzkräfte finden sie in der Nähe eines Lagerhauses im Industriegebiet, wo sie festgehalten wurden. Sie bringen die erschöpften, teilweise schwer verletzten Männer ins Spital.

Mit der Freilassung der Geiseln ist die kritische Phase vorbei. Bei den polizeilichen Spezialistinnen und Spezialisten geht die Arbeit jedoch weiter: In der Schweiz führen sie die Ermittlungen zur Erpressung fort. In Bosnien und Herzegowina können sie vier afghanische Staatsangehörige verhaften, einer davon hat in der Woche zuvor bereits einen Mord begangen. Sie gehören einer kriminellen Gruppierung an, die auf Menschenschmuggel spezialisiert ist. Nach diesem ersten Erfolg fokussieren sie nun auf das Netzwerk dahinter. Die Berner Strafverfolgungsbehörden unterstützen sie dabei.

Migrantinnen und Migranten sind ihren Schleppern ausgeliefert und werden manchmal doppelt ausgebeutet. Sie zahlen hohe Summen für die Schleusung – ein lukratives Geschäft. Bei einer Entführung werden zusätzlich ihre Angehörigen erpresst. Das Zahlen von Lösegeld ist oftmals der einzige Weg, um die Geiseln zu befreien. Viele Angehörige, insbesondere von irregulären Migrantinnen und Migranten, trauen sich nicht, die Polizei zu kontaktieren. Die Dunkelziffer der Opfer ist hoch.

«Mit der Entführung von Migrantinnen und Migranten lässt sich zusätzliches Geld generieren. Es fliesst in die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität.»

Pia, Fachreferentin Kommissariat Sonderlagen

* Name geändert

Informationsaustausch: entscheidend für die Arbeit der Polizei